"Aber der Besatzer schießt oft morgens"

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(1. März 2022) Furchtbare Bilder erreichen uns in diesen Tagen aus der Ukraine: Zerbombte Häuser, brennende Militärfahrzeuge, tausende Menschen auf der Flucht vor dem Krieg – ein Krieg, der mitten in Europa stattfindet. Für viele ist das noch immer surreal und schwer zu verstehen. Für die Menschen in der Ukraine ist die Furcht vor einem Angriff zu einer bitteren Wahrheit geworden. Die Diakonie Mitteldeutschland und „Brot für die Welt“ unterstützen seit Jahren Gemeinden und die Menschen vor Ort. Was wir gerade von einer Kontaktperson im Zentrum der Ukraine erfahren haben, lesen Sie in diesem Beitrag.

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In einem Kellergeschoss suchen die Familien einer Kirchgemeinde in Tscherkassy Zuflucht. (Foto: privat)

Jaroslaw Skitschko ist Pfarrer einer evangelischen Gemeinde in der zentralukrainischen Stadt Tscherkassy. Sein Name lautet eigentlich ganz anders. Um ihn und seine Familie zu schützen, haben wir seinen Namen in diesem Beitrag geändert. Herr Skitschko engagiert sich für die Menschen seiner Gemeinde und darüber hinaus. Viele Familien lebten schon vor dem Krieg in furchtbarer Armut und unter lebensunwürdigen Bedingungen. Jaroslaw Skitschko kann viel von der Armut der Menschen berichten. So erzählt er vom Schicksal einer Frau, die mit ihren zwei Kindern von der Ostukraine nach Dumantsi gezogen ist. Sie findet keine feste Anstellung und hat nur Gelegenheitsjobs. Sie bittet die Menschen der Gemeinde um Gemüse, damit sie für ihre Kinder etwas Warmes kochen kann. Als ihre 14-jährige Tochter krank wird, muss sie in der Gemeinde um Fiebertabletten bitten, da sie sich diese selbst nicht leisten kann. Die Kirchgemeinde schenkte ihr eine Ziege, damit die Familie regelmäßig mit Milch versorgt wird. Diese und weitere Berichte verdeutlichen die furchtbare Armut unter der viele Familien in der Ukraine schon vor dem Krieg litten.

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„Wir wurden auch gezwungen, dringend in den Keller unseres Hauses zu rennen. Eine Sirene ertönte und Explosionen waren zu hören.“ – Pfarrer Jaroslaw Skitschko

Dietrich Wohlfahrt ist Vorsitzender des Vereins „Ukraine-Freunde Gotha e. V.“. Seit Jahren hält er engen Kontakt zu Jaroslaw Skitschko und den Menschen in Tscherkassy. Mit Spendenaktionen und regelmäßigen Transportfahrten dorthin unterstützen die Ukraine-Freunde die Menschen in der Ukraine. Lebensmittel und andere Güter des alltäglichen Bedarfs aus Deutschland lindern die Not verarmter Familien. Mit dem Beginn der Corona-Pandemie ist vieles davon leider schwer oder gar unmöglich geworden. Spätestens seit dem Kriegsbeginn bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an, da direkte Hilfslieferungen in die Region weiter erschwert werden.

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Hoffnung und Zuversicht findet die Gemeinde im Gottesdienst und im Gebet zu Gott. Im Anschluss an den Gottesdienst kehren Sie umgehend zurück in den Schutz des Kellers. (Foto: privat)

Dietrich Wohlfahrt und Jaroslaw Skitschko halten per E-Mail miteinander Kontakt. Üblicherweise besprechen sie die Organisation der Hilfslieferungen, gegenseitige Besuche oder Fragen der Projektfinanzierung. Die bisher letzte E-Mail von Jaroslaw Skitschko erreichte Dietrich Wohlfahrt am Freitag, dem 25. Februar um 22:59 Uhr. Er schrieb diese Mail auf Deutsch und fügte einige Bilder hinzu. Das ist der unveränderte Originaltext:


Liebe Freunde,
Ich schreibe, solange ich etwas schreiben kann. Heute wurde ein Luftangriff auf
die Stadt Tscherkassy und die Region Tscherkassy angekündigt. Leider kann ich
wegen Nachrichtenüberwachung nicht viel schreiben. Ich kann nur sagen, dass
die Situation komplizierter geworden ist. Es gibt Informationen, dass es in der Luft
von Tscherkassy und der Region Tscherkassy eine unbekannte giftige Substanz
gibt. Mehr ist bisher nicht bekannt. Aber heute haben wir uns auf das Schlimmste
vorbereitet. Um 19:00 Uhr ukrainischer Zeit wurde ein Luftangriff auf die Stadt
Tscherkassy und die gesamte Region angekündigt. Daher wurde allen Personen
befohlen, sich zu verstecken. Wir wurden auch gezwungen, dringend in den Keller
unseres Hauses zu rennen. Eine Sirene ertönte und Explosionen waren zu hören.
Wir haben uns auch wieder versammelt, um gemeinsam in unserer Gemeinde zu
beten. Wir beten zu Gott und hoffen auf seine Hilfe. Nach dem Gebet, sobald wir
nach Hause kamen, versteckten wir uns im Keller. Die Menschen fliehen aus
Tscherkassy in die Dörfer. Mehrere Familien aus Tscherkassy zogen für einige
Zeit nach Dumanka. Außerdem kam eine große Familie für ein paar Stunden zu
uns nach Hause, um hier zu bleiben. Ich schicke Ihnen einige Fotos, die ich
gemacht habe, als wir im Keller waren.
Wir hoffen, dass wir nicht noch einmal dort sein müssen. Aber der Besatzer
schießt oft morgens. Also müssen wir heute Abend die Nachrichten verfolgen und
wachsam sein.

Aufrichtig
Jaroslaw


Jaroslaw Skitschko versteckt sich mit seiner Gemeinde in einem Keller. Dort harren sie aus und blicken einer ungewissen Zukunft entgegen. Wir beten für ihn, seine Gemeinde, die Menschen in Tscherkassy und die vielen anderen in der Ukraine und Russland, die gerade um ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Angehörigen bangen. Wir danken Menschen wie Jaroslaw Skitschko, die in dieser Situation versuchen ihr Möglichstes vor Ort zu tun – vor, während und hoffentlich auch nach dem Krieg: „Ich helfe auch gerne Menschen, besonders wenn sie sich an mich wenden, was oft der Fall ist. Schließlich sind wir von Gott einfach dazu berufen, so lange wie möglich Gutes zu tun.“, schreibt Jaroslaw Skitschko über die Motivation seines Handelns.

Update vom 7. April 2022:
Zu Beginn des Ukraine-Krieges haben wir von einer Kirchengemeinde in Tscherkassy und von den Ukrainefreunden Gotha berichtet. Jetzt gibt es tolle Neuigkeiten! Ein erster LKW mit Hilfsgütern aus Gotha ist im Dorf Dumantsi, in der Nähe der Stadt Tscherkassy, angekommen. Die Mitglieder der Gemeinde nutzen das nicht nur für sich, sondern sie versorgen auch die ankommenden Geflüchteten aus anderen Teilen der Ukraine. Ein großer Akt der Nächstenliebe. Vielen Dank an alle, die das möglich gemacht haben!

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Hintergrund: Der Verein Ukraine-Freunde Gotha e.V. hat das Ziel über gemeinsame deutsch-ukrainische Projekte die „Hilfe zur Selbsthilfe“ sozial Benachteiligter in der Ukraine zu ermöglichen. Neben Hilfslieferungen gibt es konkrete Projekte vor Ort, wie z.B. das Soziale Zentrum für Menschen mit Behinderung in Tscherkassy. Neben dieser Unterstützung organisieren die Ukraine-Freunde auch Austausch- und Begegnungsprogramme und ermöglichen ein Kennenlernen von Menschen aus der Ukraine und Deutschland. Die Ukraine-Freunde Gotha und die Menschen in der Ukraine werden von der Diakonie Mitteldeutschland im Rahmen der Aktion „Hoffnung für Osteuropa“ unterstützt. Mehr zum Verein in Gotha erfahren Sie hier: www.ukrainefreunde-gotha.de.

Die Diakonie Katastrophenhilfe leistet mit ihren Partnern vor Ort in der akutellen Situation Nothilfe. Sie können die Menschen in der Ukraine mit Ihrer Spende unterstützen:

Diakonie Katastrophenhilfe, Berlin,
Evangelische Bank,
IBAN: DE68 5206 0410 0000 5025 02
BIC: GENODEF1EK1
Stichwort: Ukraine Krise

Online unter: www.diakonie-katastrophenhilfe.de/spende/ukraine